Der Lebens- und zum Teil auch Berufsweg von Radmila Nešić ist in den letzten Jahren durch Aktivismus geprägt. Seit 10 Jahren leitet sie den Bürgerverband Ternipe, der zur Zeit das Roma-Frauennetzwerk koordiniert. Der Verband wurde in Pirot gegründet, wo Radmila lebt. Er befasst sich mit Programmen und Projekten für die Integration von Roma und Roma-Frauen in die Gesellschaft mit einem besonderen Fokus auf Jugendliche und Frauen
Radmila Nešić war nur 17 Jahre alt, als sie heiratete. Ihr Mann war nur 31 Jahre alt, als er verstarb. Sie blieb mit zwei Kindern, die damals fünf und zehn Jahre alt waren, alleine. Die Familientragödie hat Radmila dazu gezwungen, diese neue Lebenssituation zu überwinden und etwas für sich und ihre Kinder zu tun. Und sie hat noch viel mehr geschafft.
Ihr Lebens- und zum Teil auch Berufsweg sind in den letzten Jahren durch Aktivismus geprägt. Seit zehn Jahren leitet sie bereits den Bürgerverband Ternipe, der derzeit das Roma-Frauennetzwerk koordiniert. Der Verband wurde in Pirot gegründet, wo Radmila lebt, und befasst sich mit Programmen und Projekten für die Integration von Roma und Roma-Frauen in die Gesellschaft mit besonderem Fokus auf Jugendliche und Frauen.
Im Rahmen des Monats des Aktivismus der Roma-Frauen sowie der Kampagne „Kinderheirat ist kein Teil der Roma–Kultur – informiere dich und urteile nicht!“ hat ihr Verband in Partnerschaft mit dem Ministerium für Arbeit, Beschäftigung, Kriegsveteranen und soziale Angelegenheiten und mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen des Projektes „Inklusion von Roma und anderen marginalisierten Gruppen in Serbien“ eine zweitägige Schulung zum Kapazitätsausbau des Roma-Frauennetzwerks organisiert.
Die Kinderheirat wurde in dieser Kampagne besonders hervorgehoben, sowohl aus dem Grund, dass die Kinderheirat bei Roma ein Stereotyp an sich ist, als auch dadurch, dass dieses Thema nach der Entführung des Mädchens Monika Karimanović Anfang des Jahres durch Kommentare und sogar Überschriften in den Medien, die oft mit den Vorurteilen behaftet waren, dass Kinderehen ein Teil der Roma-Tradition und nicht eine Folge der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Roma seien, zusätzlich aufgeheizt wurde.
„Im Rahmen unserer Arbeit im Außendienst haben wir erkannt, dass die Ursache für Kinderehen in der Armut liegt und umgekehrt, dass Armut zu Kinderehen führt. Das ist wie ein Teufelskreis.“, so Radmila Nešić.
„Das Phänomen Kinderehen gibt es in manchen Roma-Gemeinschaften, was allerdings nicht an der Tradition oder Kultur, sondern an fehlendem Zugang zu Ausbildung oder Beschäftigung sowie an anderen sozialen und wirtschaftlichen Umständen liegt, unter denen die Roma-Bevölkerung lebt“, erklärt sie.
Kinderehen sind eigentlich überall ein Bestandteil der patriarchalen Kultur, so die Professorin-Emeritus und Koordinatorin des Zentrums für Gender-Studien an der ACIMSI Universität in Novi Sad, Svenka Savić.
„In Serbien liegen uns derzeit keine Angaben über Kinderehen von Personen vor, die nicht Angehörige der Roma-Bevölkerung sind. Und wenn solche vorliegen, so werden sie nicht veröffentlicht. Das Bildungswesen muss organisiert werden, und es muss an der Prävention von Kinderehen gearbeitet werden. Unser Bildungssystem erkennt diese Möglichkeit allerdings nicht. Der Weg hin zu einer Veränderung ist allmählich, und es bedarf viel Bildung, sowohl innerhalb der Roma-Gemeinschaft als auch in allen anderen Gemeinschaften, um das Maß an Verständnis zu finden.“, so Svenka Savić.
Die Kampagne anlässlich des Monats des Aktivismus der Roma-Frauen umfasst eine Reihe von Maßnahmen und Veranstaltungen in ganz Serbien. Unter Berücksichtigung dessen, dass eines der Mittel zur Bekämpfung der Vorurteile, Stereotypien und Diskriminierung die Präsentation von positiven Beispielen ist, wird man sich im Rahmen der Kampagne auf die Darstellung von eben solchen positiven Beispielen fokussieren. In den Medien und Sozialnetzwerken, bei runden Tischen und Workshops sowie auf Straßen-Aktionen, bei Filmdarbietungen und anderen Maßnahmen werden sich die Anführerinnen und Aktivistinnen des Roma-Frauennetzwerks (RŽM) sowie zahlreiche andere Roma-Mädchen, die mit guten Beispielen vorangehen und Vorurteile abbauen – sie alle haben einen Schulabschluss, sind keine Kinderehe eingegangen, studieren, arbeiten… – vorstellen
„Es gibt zahlreiche Vorurteile und Stereotypien über Roma. Das ist keine Vermutung und kein Eindruck. Das wird durch Fakten belegt. In der im Laufe des Jahres 2019 durchgeführten Umfrage Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt gaben über 70% der Arbeitnehmer an, dass sie dem Satz: „Roma arbeiten nicht gerne“ zustimmen oder teilweise zustimmen. Diese Einstellung findet man sogar bei den Befragten, die gegen Diskriminierung sind. Daher ist es äußerst wichtig, die Bewusstseinsbildung darüber zu fördern, dass Stereotypien und Vorurteile durchaus einen Anlass für Diskriminierung schaffen. Deswegen lautet die Botschaft unserer Kampagne: „Informiere dich, urteile nicht“, erklärte Petar Antić aus der GIZ.
Antić hob auch hervor, dass Roma-Frauen oft auf mehreren Grundlagen diskriminiert werden: „Die Ergebnisse der Umfrage Einstellung der Bürger und Bürgerinnen gegenüber der Diskriminierung in Serbien aus dem Jahr 2019 zeigen, dass zwei Drittel der Bürger (69%) der Meinung sind, dass es in Serbien Diskriminierung gibt, und 50% glauben, dass vor allem Roma, gefolgt von Frauen, Diskriminierung ausgesetzt sind (33%).“
Ähnlich wie in der gesamten Westbalkan-Region gehören die Angehörigen der Roma-Minderheit in Serbien zu den verletzlichsten marginalisierten Gruppen. Neben den strukturellen Nachteilen ist die Roma-Minderheit auch wegen Stereotypien und Vorurteilen der Diskriminierung ausgesetzt.
Radmila Nešić berichtet aus eigener Erfahrung, dass sich einige aus ihrer Familie aus Angst vor Diskriminierung nicht als Angehörige der Roma-Nationalminderheit erklären.
„Mein Onkel ist Dirigent, meine Cousine ist eine herausragende Violinistin, die andere Cousine ist eine Juristin, und keiner von ihnen erklärt sich offen als Roma oder Roma-Frau.“, sagte sie.
Auf der anderen Seite sind Stereotypien auch in Teilen der Roma-Minderheit zutiefst verwurzelt. Roma-Frauen und -Mädchen leiden unter mehrfacher Diskriminierung und sind auch den patriarchalen Einstellungen in der eigenen Gemeinschaft ausgesetzt, wodurch ihnen ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und Beschäftigung sowie zum Gesundheitswesen und anderen sozialen Diensten verwehrt wird.
„Können Sie sich vorstellen, in welcher Lage sich eine Frau befindet, die über 50 Jahre alt und arbeitsuchend ist, und geschweige denn, wenn sie darüber hinaus eine Roma-Frau ist? Wenn man dem noch die Vorurteile und Stereotypien hinzufügt, dass Roma gerne stehlen oder ungerne arbeiten, welche Chancen hat sie dann, Arbeit zu finden? Vorurteile und Stereotypien bilden ein großes Hindernis für die Durchsetzung der grundlegenden Menschenrechte“, so Antić.